„Da versiegelt er die Hand aller Menschen, damit die Leute insgesamt sein Tun erkennen“…

Diesen Satz aus dem Alten Testament (Hiob 37:7) finde ich hoch interessant. Denn man muss weder Theologe noch Exeget sein, um zu erraten, was er implizit bedeutet… und das ist in der Tat sehr viel!

Er spricht in deutlichen Worten von dem bleibenden Abdruck Gottes in jedem Menschen – das göttliche Erbe, das sich in die gesamte Hand einprägt und dort eine Spur der Erinnerung hinterlässt. Im Grunde beschreibt dieser Satz das unantastbare Vermächtnis, das zugleich den Ursprung und das Ziel eines jeden Menschen in sich vereint.

Ein Siegel ist etwas Offizielles und symbolisiert naturgemäß eine bestimmte Würde. Wer es bricht, erfährt ein Geheimnis und dringt unweigerlich in eine intime Sphäre ein.

Beim näheren Betrachten des obengenannten Zitats aus dem Buch Hiob kann man nicht umhin, an die Chiromantik zu denken – die Kunst der Handliniendeutung, die Aufschluss über das Schicksal eines Menschen geben soll. Dennoch fände ich es schade, es dabei zu belassen und nicht weiter zu forschen. Diejenigen, die den Weg der inneren, spirituellen Suche gehen, wissen nämlich sehr wohl, dass die Kenntnis über das eigene Schicksal nicht unbedingt reifer und reicher im Herzen macht.

Die Wahrsagekunst des Handlesens ist also nicht die Richtung, die ich hier im Laufe meiner Überlegungen mit Ihnen einschlagen möchte. Es gibt auf der einen Seite die Zukunftsvorhersagen und auf der anderen das Verständnis dessen, wie das Göttliche in jedem Augenblick in uns wirkt und durch die verschiedenen Teile unseres Körpers mit uns spricht. Letzteres ist für unsere Entwicklung viel wichtiger.

Was das anbelangt, können allein unsere Hände als Pforten fungieren. Sie laden uns ein, tiefer in die Dynamik des Lebens, das in uns pulsiert, einzudringen.

Unsere Kultur scheint diese Tatsache intuitiv zu verstehen, wie man anhand der vielen Redensarten erkennen kann, die sich wie ein roter Faden zwischen der greifbaren Kraft der Inkarnation und der subtileren Kraft der Seele hindurchziehen.

Wenn wir jemandem die Hand reichen, machen wir nicht dabei eine konkrete Geste von einem Herzen zum anderen?

Und selbst wenn der ehrerbietige Handkuss von einst nicht mehr angebracht ist, verlangt es nicht die Tradition – obschon auch sie bereits im Verfall begriffen ist –, dass ein Mann um die Hand seiner Geliebten anhält und ihr damit verspricht, mit ihr Hand in Hand durch das Leben zu gehen?

In der Tat werden Hand und Herz stets miteinander in Verbindung gebracht. Die Hand übersetzt die stillen Worte des Herzens und beide vereinen sich, um Liebe und die damit erzeugte Kraft zu übermitteln.

Bemerkenswerterweise kann das, was für die Menschen gilt, auf die göttliche Dimension übertragen werden. Die Symbolik bringt zum Ausdruck die Nähe bzw. Annäherung zwischen der göttlichen und der zeitlichen Dimension.

Die Segnung, zum Beispiel, äußert sich durch den Segengestus, der ohne Zweifel zu den eindeutigsten Ausdrucksformen gehört, ebenso wie das Gebetszeichen mit gefalteten Händen. Auch hier schlagen die Hände eine Brücke zwischen Weltlichem und Göttlichem.

Diese Verbindung wird überdeutlich bei der Heilung durch Handauflegen. Diese Gabe besaßen unter anderem die französischen Könige, die einst dafür bekannt waren, die Skrofulose auf wundersame Weise zu heilen.

Interessanterweise werden die historischen Könige „nach göttlichem Recht“ mit der „Hand der Gerechtigkeit“ anstelle eines Zepters dargestellt… was sie leider nicht daran hinderte, sich die Besitztümer anderer willkürlich unter den Nagel zu reißen …

Die erhobene Hand wird auch gemäß dem gesellschaftlichen Kodex bei Treuegelöbnissen und Wahrheitseiden eingesetzt, als könne sie die Aufrichtigkeit des Herzens bezeugen.

Man könnte einwenden, dass all diese Beispiele systematisch auf unsere jüdisch-christliche Kultur und sogar bis an deren Wurzeln zurückführen. Um noch einmal auf biblische Beispiele zurückzugreifen, das Symbol von Mirjam, Schwester von Moses, ist eine schützende Hand namens Hamsa. Gewiss ist diese Hand mit ihrer Bedeutung im kollektiven Unbewussten eingeprägt…

Wir können dabei jedoch nicht den Islam außer Acht lassen, der unter seinen wichtigsten Schutzsymbolen das Zeichen Hamsa oder Khamsa zählt. Es handelt sich ebenfalls um eine ausgespannte Hand – natürlich nicht die Hand von Moses‘ Schwester, sondern die von Fatima, einer der Töchter des Propheten Mohammed… Diese Hand wird gelegentlich mit einem Auge in der Handfläche dargestellt. Es ist das Auge Gottes, der die Herzen prüft…

Das Symbol der Hand führt auch unumgänglich auf die Zahl 5 zu, eine heilige Zahl, die die Quintessenz des Lebens zum Ausdruck bringt, das „fünfte Seiende“, das der Mensch durch die Intelligenz des Herzens offenbaren soll…

Diese Zahl lässt die Christen auch nicht unberührt, denn sie sehen darin die Quintessenz des Seins: einen Zustand der Verwirklichung, ausgedrückt im Symbol des Kreuzes, dessen Mitte das Christus-Prinzip in voller Selbsthingabe darstellt.

Gehen wir noch einen Schritt weiter und erinnern wir uns an die Hamsa-Hand, die bei den alten Phöniziern allgegenwärtig war. Indem sie das Symbol zeichneten oder an sich trugen, genossen sie den Schutz der Göttin Tanit… ein anderer Name für Ishtar. Isthar… der Planet Venus, der von den Essenern „Mond-Sonne“ genannt wurde.

Wenden wir uns nun dem Orient und den hinduistischen und buddhistischen Traditionen, in denen die Hand einen besonderen Stellenwert genießt.

Ein kurzer Blick in die heilige Kunst der beiden verwandten Kulturen lässt schnell erkennen, welch wichtigen Platz die Mudras darin einnehmen. Zur Erinnerung, Mudras sind Handgesten, die energetische Verschiebungen herbeiführen und eine spirituelle Haltung zum Ausdruck bringen oder verstärken. Wenngleich solche Gesten auch mit dem Kopf und dem gesamten Körper ausgeführt werden können, so sind die Handmudras besonders präzise und von tiefer Bedeutung.

Sie zeugen von einer fundierten Kenntnis der energetischen Anatomie des menschlichen Körpers und versinnbildlichen das Verhältnis des Menschen – als Ausdruck der göttlichen Gegenwart – mit dem Kosmos.

In diesem Zusammenhang symbolisiert der Daumen Brahman, das Unerkennbare. Der Zeigefinger steht für die Energie von Jupiter – das Prinzip der Gerechtigkeit. Der Mittelfinger entspricht Saturn, dem Meister der Zeit. Der Ringfinger steht in Verbindung mit der Sonne – mit der Kraft von Vishnu, dem universellen Christus-Prinzip. Und zu guter Letzt verkörpert der kleine Finger die Kraft von Merkur – Träger von Informationen aus dem göttlichen Energiefeld … Informationen, die wir erst wahrzunehmen lernen müssen. Wenn wir also halb im Scherz sagen, dass unser kleiner Finger uns etwas sagt, ist das vielleicht gar nicht so abwegig!

Durch die verschiedenen Positionen der Finger und der Hand bei den Mudra-Übungen wird eine Verbindung zu den verschiedenen Bereichen der göttlichen Wirklichkeit hergestellt und angeregt. Es gibt demnach spezielle Mudras, um Weisheit, Erleuchtung, Demut, Beherrschung der irdischen Persönlichkeit usw. zu erlangen…

Wer glaubt, dass die genauen Handgesten eine willkürliche Sammlung von Codes und Symbolen sind, die lediglich eine bestimmte Absicht oder eine innere Erwartung ausdrücken, irrt sich.

Denn die Finger und die gesamte Hand sind von einem feinen Netz aus „Mikro-Nadis“ durchzogen, die sich Handgelenkchakra zusammenfügen und später die Hauptnadi bilden, die am Arm entlang bis zur Schulter und danach zum Herzen verläuft – ein bisschen wie das Querband eines Hosenträgers. Das Handgelenkchakra  übrigens befindet sich genau dort, wo der Nagel der Kreuzigung das Handgelenk durchbohrt.

Aus diesem Grunde begrüßten sich die Essener, indem sie die rechte Hand aufs Herz legten. Durch diese Geste, mehrmals pro Tag ausgeführt, schlossen sie den schönsten Kreis und stellten eine Mudra der Kraft und Wahrheit her. Sie ehrten damit die göttliche Ausstrahlung, von ihrer kosmischen Ausdruck bis hin zur ihrem Fortbestand in der Inkarnation.

Die Eingeweihten unter ihnen – wie auch die Eingeweihten aus allen großen Traditionen – waren sich wohl bewusst, dass das Universum im Menschen enthalten ist und dass der Mensch wiederum durch seine Art zu sein und zu schaffen das gesamte Universum widerspiegelt.

Aus der tiefen Verbindung, die die „kosmische Hand“ des Menschen mit den himmlischen Sphären vereint, ist der wenig bekannter Aspekt einer äußerst geheimen spirituellen Lehre des Erwachens entstanden – des Kashmiri Tantras. Diese Lehre besteht aus einer Reihe von Praktiken, in denen der Meister Jesus eingeweiht wurde, und die er später an wenige auserwählte Jünger weitergab, um in ihnen die endgültige Versöhnung von Geist und Materie zu fördern.

Ein besonderes Merkmal dieser Erwachungslehre ist die Kenntnis der sehr engen Verbindung zwischen den Fingern der Hand und den fünf Hauptchakren des menschlichen Körpers, die auch jeweils in Verbindung mit unseren fünf Sinnen stehen.

Gemäß dieser Lehre entspricht der Daumen dem Tastsinn, der Zeigefinger dem Sehsinn, der Mittelfinger dem Geruchssinn, der Ringfinger dem Geschmackssinn und der kleine Finger dem Gehörsinn. Diese äußerst anspruchsvolle Einweihungslehre betrachtet die Sinne nicht wie üblich als Feinde, die die Erweiterung des Bewusstseins nur hinderlich sind, sondern, wenn man sie gut versteht und beherrscht, als die genaue Fortsetzung unserer Seele und unseres Geistes. Indem sie zugleich die Sprache der Materie und des Lichtes sprechen, führen sie uns näher zur göttlichen Gegenwart, abseits vom Dualismus. (1)

Ein Christus, der seinen engsten Jüngern in einer solchen Lehre unterrichtet, ergibt ein ganz anderes Bild als es üblicherweise gezeichnet wird. Dieser Christus ist viel offener als das erstarrte Bild, das die Kirche von ihm gibt und das nur den angeblich hoffnungslosen Konflikt zwischen Geist und Materie verstärkt.

So gesehen ist die Hand mehr denn je ein Verbindungsglied, ein wunderbares Instrument der Versöhnung.

Die alten Griechen, die ebenfalls auf der Suche nach Weisheit waren, wiesen auf das Vorhandensein einer Nadi hin, die das menschliche Herz mit dem linken Ringfinger verbinden soll. Sie nannten diese Nadi, in Latein übersetzt, „vena amoris“ – die Vene der Liebe… Darum trägt man in den meisten westlichen Ländern den Ehering an diesem Finger.

Manche Traditionen sind offensichtlich kodiert und vermitteln ein Verständnis von uns selbst, von dem wir oft ahnungslos sind…

© Daniel Meurois

(1) Siehe „Jesus‘ Jüngerinnen – Das geistige Erbe der drei Marien“, 7. Kapitel „Das Brautgemach“, Silberschnur Verlag.