Ein heiliges männliches Prinzip?
Seit Jahren beschäftigt man sich im Rahmen des inzwischen als „Bewusstseinswandel“ bekannten Prozesses ausführlich mit dem heiligen weiblichen Prinzip. Das ist auch gut so, auch wenn es zuweilen fast klischeehaft und übertrieben herüberkommt.
Die Zeit war aber reif dafür und ich freue mich, dass ich seit 1996 – mit der Veröffentlichung von „Essener Visionen“ – meinen Beitrag zur Aufklärung dieses Konzeptes leisten kann.
Nur… Bei all diesen Überlegungen stellt sich für mich schon lange die Frage des heiligen männlichen Prinzips.
„Logisch“… und jedoch denkt niemand daran. Warum?
Nur weil wir im Westen heute bemüht sind, mehrere Jahrtausende der patriarchalen Unterdrückung wiedergutzumachen, müssen wir nicht diese Ausdrucksform des Heiligen ignorieren oder denken, dass es überflüssig und sogar unangebracht wäre, sie zu erwähnen.
Diese unerwartete Form von Ausgrenzung oder zumindest von beredtem Schweigen hat dazu geführt, dass viele Männer – im männlichen Sinne des Wortes – heutzutage kaum noch wissen, wie und wo sie hingehören. Die Äußerungen und Fragen, die mir regelmäßig zugetragen werden, machen es mir immer wieder klar.
Ist das männliche Prinzip demnach nur weltlich… und irgendwie „kriechend“?
Da sage ich mir, dass die Zeit vielleicht gekommen ist, um gründlich nachzudenken und die edle, heilige Seite des Männlichen hervorzuheben – eines Männlichen, das seit langer Zeit unter dem religiösen und säkularen Dogmatismus, dem Männlichkeitswahn und allerlei Täuschungen leidet.
Wer über ein gewisses Maß an gesundem Menschenverstand verfügt, weiß natürlich sehr wohl, dass der männliche Teil der Menschheit nicht nur aus dominierenden und primitiven Männern besteht. Es ist auch nicht mein Anliegen, hier über diese Selbstverständlichkeit zu reflektieren.
Vielmehr möchte ich auf die Rolle des „Erweckers“ hinweisen, die dem Mann aufgrund seiner Eigenschaften zugedacht ist, und die er auch erfüllen muss.
Wie kann man das heilige männliche Prinzip definieren? Ganz einfach als genaue Ergänzung des heiligen weiblichen Prinzips. Es steht für Dynamik, Besamung, Kraft und Stabilität in ihrer subtilen, lichtvollen und ausdauernden Ausdrucksform.
Man spricht sehr viel im spirituellen Kontext von der Rolle der Frau als „Entbindende“ und von ihrer initiatorischen Funktion. Das ist zweifellos wahr, jedoch wäre es bedauerlich zu vergessen, dass keine Geburt aus einer einzelnen Polarität hervorgehen kann, sowohl auf der physischen wie auch auf der subtilen Ebene.
Das männliche Prinzip wirkt im Herzen des Weiblichen und das Weibliche entfaltet sich im Männlichen.
Betrachten wir nun von einem höheren Blickwinkel das Christ-Prinzip, wie unsere Kultur uns dieses vermittelt. Wird es nicht darin durch seine mystische Hochzeit mit der Menschheit und demzufolge mit dem weiblichen Prinzip, verkörpert in der Person von Miriam von Magdala, hervorgehoben?
Analog dazu könnte man sagen, dass dieselbe Miriam zu ihrem höheren Selbst gefunden hat, indem sie den Archetypen des Behälters, des Kelches, oder in anderen Worten, des wahren Grals, der durch die gesamte Menschheit dargestellt wird, verkörperte.
Um zum Ausdruck kommen zu können, muss der Geist einen Raum finden, der ihn empfängt… und man kann nur vom Empfang sprechen, wenn es auch einen Gast gibt. Der Kelch und dessen Inhalt sind also jeweils – jeder auf seine Art – das Symbol eines Aspektes der Einweihung, die Erwachung bringt. Sie veranschaulichen eine einzige Realität – die der scheinbaren Gegensätze, die unausweichlich dazu bestimmt sind, miteinander zu verschmelzen.
In Wirklichkeit müssen wir begreifen, dass das, was wir heute als heiliges weibliches Prinzip empfinden, ohne seine männliche Entsprechung immer unvollständig bleiben wird.
Es wäre also bedauerlich, wenn es das einzige Argument der oft zu einseitigen und systematischen Rede von manchen Anhängern des „Neuen Bewusstseins“ bleiben würde.
Wenn wir es nicht verstehen, wird sich das alte, zermürbende Spiel fortsetzen, bei dem das Männliche und das Weibliche sich den Ball immer wieder zuspielen, und das seit… Seit wann eigentlich? Seit viel zu langer Zeit auf jeden Fall.
Was hätten wir davon, wenn wir vom Patriarchat zum Matriarchat oder vom Papst zur Päpstin wechseln würden? Es würde darauf hinauskommen, dass wir eine Maske absetzen, nur um direkt eine neue aufzusetzen.
Es sollte klar sein, dass jedes Mal, wenn ein Mensch Vollständigkeit und Verwirklichung erlangt, dann heißt das, dass er Eins wird und in sich die alchemistische Hochzeit des Mondes und der Sonne vollbringt. Dadurch denkt er nicht mehr in Kategorien von heilig und profan und noch weniger von männlich und weiblich. Er genießt das Leben und schenkt es gleichzeitig, das ist alles.
Ganz egal, welches Gesicht oder welchen Körper er haben mag, er kennt keine Grenzen und Polaritäten mehr. Der Inhalt lässt den Behälter in Vergessenheit geraten. Was wir vor allen Dingen durch die Mannigfaltigkeit des Lebens wieder aufleben müssen, ist das heilige Prinzip des Menschen!
Darüber hinaus gibt es den androgynen Zustand unseres Geistes… wonach wir uns sehnen, ohne dass es uns bewusst ist.
Ich werde natürlich gerne weiter vom heiligen weiblichen Prinzip reden, denn sein heutiges Aufkommen sagt einiges über unseren Zustand der Verwandlung. Man kann es nicht leugnen. Es bringt eine innere Schwelle an den Tag, ein wichtiges Stadium, das wir dringend wieder entdecken mussten…
Ich werde jedoch darauf achten, dass diese Rede nicht zu einer halben Verwandlung führt, denn die Erlösung unseres Leids liegt im Endeffekt weder im Mann noch in der Frau, sondern in dem einen Geist, der das Beste in jedem von ihnen belebt.
Soll man trotzdem von einem heiligen männlichen Prinzip sprechen, werdet ihr mich zum Schluss fragen? Ich antworte Ja, ohne zu zögern. Man muss wissen, dass es dieses Prinzip gibt und sich nicht davor fürchten, es zum Ausdruck zu bringen. Männer sollten sich nicht schämen über die konstruktiven Eigenschaften ihrer Herzen und Frauen sollten sich nicht vor ihnen fürchten…
Nur so können wir beide Waagschalen ins Gleichgewicht bringen und unseren Blick auf den hellen Balken in deren Mitte richten.
© Daniel Meurois