Den Frieden erklärt man nicht, man muss ihn in sich hineinlassen… Die volle Bedeutung dieser Worte, die mir vor einigen Jahren anvertraut wurden, erschließt sich mir jeden Tag ein wenig mehr.
Gewiss, man erklärt nicht den Frieden, wie man den Krieg erklären würde!
Er wird nicht durch eine Unterschrift am Ende eines Dokuments beschlossen, als würde man eine Armee durch feierliche Verkündung und sorgfältig gewählte Worte aufstellen.
Frieden, und damit meine ich den echten Frieden, ist etwas völlig anderes. Haben wir ihn je auf Erden erlebt? Seit Menschengedenken hat sich niemanden gefunden, der das bezeugen könnte. Außerdem behaupten ganze Generationen von Historikern, dass es ihn nie gegeben hat, da die Menschengeschichte nur eine endlose Reihe von Kriegen und Massakern aufweist. Während ich diese Zeilen schreibe, gibt es nicht weniger als 230 bis 240 Konflikte gleichzeitig verteilt auf dem ganzen Planeten.
Und dennoch… ist das Konzept von Frieden mit dem dazugehörigen Ideal im kollektiven Bewusstsein aller Menschenvölker noch fest verankert. Dass es noch für alle Menschen, die des Namens würdig sind, etwas bedeutet, heißt dann wohl, dass das Prinzip des Friedens uns noch vertraut ist. Es ist als Keim in jedem von uns vorhanden, real und lebendig… ähnlich einer Sonne, der wir den Rücken zukehren, um nicht geblendet zu werden.
Warum fällt es uns dann so schwer, vom Frieden zu sprechen? Warum ist es uns unmöglich, ihn zum Erblühen zu bringen, obwohl jeder ihn angeblich herbeisehnt? Hat das mit unserem gemeinsamen Ursprung und unserer kollektiven Bestimmung zu tun? Ja, das scheint mir so zu sein, selbst wenn unser parteiischer Stolz darunter leidet. Jedenfalls werden wir heutzutage mehr denn je mit diesem Rätsel konfrontiert, der die Ausmaße einer gewaltigen Herausforderung annimmt.
Die Menschen stehen aktuell an einer wichtigen Kreuzung ihrer Geschichte und müssen unbedingt den Sinn und die Tragweite der Veränderungen begreifen, wenn sie überleben wollen. Es ist höchste Zeit, dass wir das Boot, in dem wir seit Urzeiten zusammen navigieren, mit gesundem Menschenverstand zu betrachten…
Stellen wir uns die Frage, was wir bis jetzt Frieden genannt haben. Entspricht es nicht eher einer Gefechtspause, einem Interludium zwischen zwei Kriegen? In diesem Zustand sind wir immer bemüht zu behaupten, dass alles gut ist… während wir mehr oder weniger bewusst die Keime der nächsten Konflikte pflegen. Jeder Krieg entsteht durch Schmerz, Groll oder Angst… und ebnet selber den Weg für einen weiteren Krieg.
Heute begreife ich, dass das Mechanismus, wodurch Kriege entstehen und fortgesetzt werden, derart im menschlichen Verhalten verankert ist, dass man es als genetisches Erbe betrachten kann – oder zumindest als eine Art Virus, das von einer Generation zur nächsten übergreift.
Müssen wir darin einen Teufelskreis sehen, aus dem wir nie ausbrechen können und in dem wir bis zum bitteren Ende feststecken? Ich will es nicht glauben… Ich sage: „Ich will es nicht…“, denn unsere Gedanken sind es, die die ersten Keime für die zukünftigen Welten pflanzen. In unseren Gedanken nehmen alle Dinge Gestalt, ehe sie sichtbar werden. Ich glaube, die Menschheit ist schwer krank, aber gleichzeitig trägt sie in ihrem tiefen Inneren, über ihre Verzweiflung hinaus, einen erstaunlichen Gegengift, der den Infekt, womit sie sich hat anstecken lassen, heilen kann.
Dieses Gegengift ist nichts anderes als die Fähigkeit, die Dinge von einer höheren Warte aus zu betrachten. Es ist aber kein kleiner Höhenflug mit drei Flügelschlägen und vier politisch-philosophisch-wirtschaftlichen Argumenten. Nein… wir müssen wirklich emporsteigen, bis zur Überwindung der Gesetze unserer eigenen Schwerkraft.
Denn zweifellos ist eine gewisse Schwerkraft die Quelle unseres Leids: die Schwerkraft unserer bewussten und unbewussten Erinnerungen. Unsere Urerinnerungen beschweren und belasten uns bis auf die Knochen. Sie lassen uns das volle Register der Absurditäten herunterleiern und steuern uns von Argumenten zu Vorwänden und von Angstreflexen zu Rachespiralen. Unsere Zellen, beladen mit angestauten Frustrationen, haben das Ruder übernommen.
Wollen wir sie noch lange gewähren lassen? Ist die Insel einer Gefechtspause wirklich der einzige Hafen, den man ansteuern kann?
Die Entscheidung liegt bei uns, zuerst bei jedem einzelnen und dann als Gemeinschaft. Denn das Angriff- und Verteidigungsmechanismus, das sich in unseren eigenen Zellen eingenistet hat, wird auf einer anderen Ebene im Herzen des Menschengeschlechts weitergeführt. Dort spielt jeder von uns die Rolle einer Zelle, die zwischen den gleichen Prinzipien schwankt. Unsere größte Herausforderung besteht darin, nicht mehr als blindes Zwischenglied in einer Reihe von zermürbenden Kettenreaktionen der Gewalt zu fungieren.
Die Desinfizierung unserer grundlegenden Wunde ist also zweifellos für jeden von uns eine Frage des Verständnisses, gefolgt von einer Entscheidung und einem Willensimpuls aus dem tiefsten Inneren, der dann unser ganzes Wesen in allen seinen Facetten einnimmt.
Ich bin fest davon überzeugt, dass ein solcher Impuls über die Absichten von Gerechtigkeit, Teilung, Vergebung und sogar Liebe hinausgeht. Er entspricht nicht einmal einer Moral, sondern einer klaren, ultimativen Vision der Lebensintelligenz. Ohne Willen ist die Liebe schwach, ohne Geduld versiegt der Wille, und ohne Vision geht der Geduld die Luft aus…
Bemühen wir uns also, die bedingungslose Vorstellung unserer eigenen Entwaffnung in uns hineinzulassen und schließlich in uns zu tragen. Beschließen wir die Auflösung unserer unzähligen inneren Grenzen, indem wir bewusst die Einwände der Menschen ignorieren, die mit ihren „Ja, aber…“ jede Hoffnung untergraben.
Damit fängt alles an, allen Argumenten und Widersprüchen zum Trotz… denn das Undenkbare zu denken ist bereits der erste Schritt zu dessen Entstehung.
Lassen wir unsere Vorstellungskraft spielen!
© Daniel Meurois, Québec