Nie werde ich das vergessen … Es war in jenem Sommer, als meine Wunden aufgetreten waren. Meine Freunde und ich kehrten eben vom Monte Alverna zurück. Meine Füße taten mir so weh, dass ich letztlich einwilligte, auf einen Esel zu steigen, um ins Tal zurückzukehren und dann weiterzuziehen. Das Tier hieß Basile. Während einer Pause fraß es genüsslich alle Disteln, die zwischen dem Schotter hervorsprießten. Ich habe mich oft gefragt, wieso Esel eine so stachelige Pflanze mögen. Es erstaunte und amüsierte mich, doch das war alles … 

An jenem Tag jedoch war meine Seele sehr weit ausgedehnt … wohl aufgrund dessen, was ich erlebte – ohne zu wissen, was ich damit anfangen sollte. 

Ich legte mich auf die Seite ins trockene Gras, um eine Distel aus der Nähe zu betrachten. Im Grunde wollte ich sie nicht nur genau anschauen, sondern sie ‘wirklich und wahrhaftig sehen’, sie verstehen und lieben – so als sei ich Basile. 

Es mag euch dumm vorkommen, doch so entdeckte ich einen Schatz. Sie war so wunderbar, meine Distelblüte! Ein ganz eigenes Universum – eine Sonne. Ihre Strahlen waren intensiv bläulich lila … Sie enthielten die ganze Tiefe eines sommerlichen Abendhimmels, wenn es draußen lind und warm ist. 

Als ich sie genauer ansah, bemerkte ich, dass zwischen ihren Stacheln ein weißer Flaum war, vermutlich der Rest ihres Kokons. Wie seltsam war doch diese unerwartete Vermählung von Sanftem und Rauem. War die Distel im Grunde ein zartes Wesen, das nur aus Angst stach, um sich zu schützen? Waren die Esel vielleicht gerade von dieser Zartheit angezogen? Sahen sie so sehr das Herz oder die Seele der Distel, dass sie den aggressiven Panzer sogleich vergaßen? 

Diese Überlegungen führten mich zu einer blitzartigen Erkenntnis. Haltet das bitte nicht für Blasphemie … Ich sagte mir nämlich, dass unser Herr uns bestimmt genauso sieht, wie die Esel die Disteln. Er sieht nur das Gute in uns, allein das zählt in seinen Augen. 

Er weiß, dass unsere gewaltsamen Verhaltensweisen nur die Schutzwälle, Fallgitter und Zugbrücken von Seelen sind, die sich fürchten. Wir greifen doch meist an, um uns zu verteidigen – weil wir den Fortgang des Lebens nicht verstehen. Man muss sich nur einmal die ganze Palette unserer unsinnigen Verhaltensweisen vor Augen halten, dann wird das sehr schnell deutlich. 

Sucht sie einmal selbst – ihr werdet schon sehen! Der Tyrann, der Dieb, der Lügner oder Egoist – im Grunde sind sie alle verängstigte kleine Kinder, die sich hinter Bergen von Stacheln verstecken. Sie wollen ihre Wunde nicht zeigen – die Stelle, wo die Distel zart ist.” 

Agnes und ich wechselten einen kurzen, verschworenen Blick, das weiß ich noch. Er war so verschworen und entzückt, dass ich nicht mehr weiß, wer von uns beiden die folgende, amüsierte Bemerkung fallen ließ: 

“Ja, aber, mein Bruder … der große Unterschied besteht doch darin, dass unser Herr Jesus uns nicht aufisst!” 

Wäre Franz Brust nicht vor Schmerzen so verkrampft gewesen, wäre er wohl in schallendes Gelächter ausgebrochen. 

“Glaubt ihr?”, sagte er, mit einem verzerrten Grinsen, das er rasch in ein breites Lächeln zu wandeln suchte. “Glaubt ihr wirklich? Doch, auf seine Weise isst er uns schon … Er nimmt uns vollständig ein! Er pflückt unser Herz und speist es seinem Geistesstrom ein. Aber mit Liebe nehmen hat nichts mit Aneignung oder Zerstörung zu tun … Es lässt nur das Leben zirkulieren … und führt zu Verwandlung! Gott ergreift uns, aber er verschlingt uns nicht. Denn Er will unser Bestes zu sich zurückrufen. 

Ihr seht also, es ist ganz einfach … So habe ich den wahren Sinn des Mitgefühls verstanden und den Schlüssel zur Heilung gefunden. Wenn man etwas betrachtet, um es wahrhaftig zu sehen und überdies bereit ist, alles zu vereinfachen, sieht man unter dem Deckmantel der Härte nur noch Schönes. Und außerdem, Sorelle … wird ein solcher Schutzmantel immer dünner, je weniger man sich damit aufhält.  

© Daniel Meurois, Auszug aus dem Buch „Das Geheimnis des Franz von Assisi”, Kapitel 10 „DIE DISTELBLÜTE“, beim Silberschnur Verlag, © Daniel Meurois