von Daniel Meurois

Das Göttliche ist ein Versuch der Heraufbeschwörung, der Empfindung der herrlichen Strömung des Lebens, die durch das Universum zirkuliert und sogar über das hinaus, was wir davon verstehen können. Es skizziert in uns das unglaubliche, unendlich intelligente, unendlich liebende Bewusstseinsfeld, das (oft inkognito) alles, absolut alles, durchdringt, was ist. 

Das Göttliche ist daher grundsätzlich unfassbar. Es sieht weder wie ein Mann aus noch wie eine Frau und noch viel weniger wie ein Richter. Es ist wie eine Welle oder ein Fluss, der alles durchströmt und durchtränkt. 

Es ist keine Option im Leben und ist auch nicht im Besitz irgendeiner Tradition, sondern Es ist das Leben selbst, ein Leben, an dem wir in jeder Nanosekunde unserer Existenzen mitwirken, ob wir es wollen oder nicht. 

Wir können Es uns auch als Feuer vorstellen, als Glut, die jedes Wesen mehr oder weniger in Form eines Funkens zum Ausdruck bringt, der sich erinnern und wachsen will. 

Sind all das symbolische Bilder? Ja und nein, denn Symbole und Archetypen sind die erste Sprache des Göttlichen, deren Sinn wir uns alle bemühen müssen zu erfassen, wenn Worte machtlos sind. 

Das Göttliche ist der »Namenlose«, den einige alte Völker, die die Grundlagen unserer Kultur geschaffen haben, respektvoll heraufbeschworen. Aber selbst wenn wir »Der Namenlose« sagen, benennen wir ja schon wieder! Vielleicht ist es ja dieser schwer zu überwindende Widerspruch, der so manchen großen Mystiker veranlasst hat, ein Schweigegelübde abzulegen … 

Der Begriff des Göttlichen bringt also nicht die Empfindung irgendeiner Präsenz in uns zum Ausdruck, sondern der Präsenz, des geheimnisvollen Lebensfunkens, der in jedem Blick erstrahlt. Das Wunderbare an Ihr ist, dass Sie weder ein Glaubensbekenntnis noch einen Ritus vorschreibt. Sie ist einfach … Was auch völlig genügt, ist Sie doch der Schlüssel zu diesem »friedvollen, freudigen Selbst«, das wir verzweifelt überall suchen. 

Auf der Suche nach der Gebrauchsanleitung fürs Leben 

All das wissen wir natürlich mehr oder weniger ungenau, seit wir begonnen haben, über den Sinn unseres Lebens und über unser Ziel nachzudenken. Leider erfassen wir im Dschungel unseres Alltags nur selten die Tragweite und die möglichen Konsequenzen all dessen. 

Warum? Wohl weil uns in unserer Gesellschaft niemand – von Ausnahmen einmal abgesehen – jemals eine Gebrauchanleitung dafür gibt, wer wir sind und was das Leben ist. 

Aber kann es eine derartige Gebrauchsanleitung denn überhaupt geben? Sicherlich nicht in einer starren Form – denn der Weg und die Erfahrung jedes Einzelnen sind einzigartig und unersetzbar –, aber in Grundzügen ja. 

Mir selbst wurde eine der schönsten Zeilen dieser »Gebrauchsanleitung« vor etwas mehr als 30 Jahren in Indien übermittelt. Hier meine Schilderung, wie all das vom Göttlichen in Szene gesetzt wurde … 

Damals hielt ich mich mit meinen Reisegefährten in Varanasi auf. Die dem Ganges geweihte heilige Stadt zog mich sofort in ihren Bann mit ihren bunten Menschenmengen, die im schlammigen Wasser des Flusses ihr rituelles Bad nahmen. 

Faszinierend waren auch die unzähligen Sadhus und Yogis, die ununterbrochen auf ihren Steinblöcken saßen, mit verlorenem – oder gefundenem – Blick, der auf irgendeinen inneren Horizont gerichtet war. 

Auf einem Spaziergang fiel einer dieser Männer mir besonders auf. Auf einem »Ghat«1 sitzend, hätte er einfach als Meditierender unter vielen durchgehen können. Aber seine Kleidung veranlasste mich, mich ihm etwas zu nähern, indem ich mir einen Weg durch die Abfälle und verwelkten Blütenketten bahnte, die auf den Treppenstufen herumlagen. Im Gegensatz zur Kleidung der anderen Asketen, Yogis und Pilger war sie extrem gepflegt … 

Sein safrangelbes Gewand war so sorgfältig um seinen Körper drapiert, dass man hätte meinen können, der Mann würde auf das Klicken eines Fotoapparates warten, um dann die Hand auszustrecken und ein paar Rupien für sein Essen einzusammeln. Aber nichts dergleichen. 

Mit geschlossenen Augen, anscheinend unempfindlich gegenüber dem Lärm und dem geschäftigen Treiben, war er offensichtlich »anderswo«, ich möchte sagen außerhalb der Sorgen und Belange unserer Welt. Für einen Augenblick glaubte ich sogar, ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen auszumachen, als würde er irgendeine unaussprechliche Wirklichkeit an einem anderen Ufer berühren … 

Ich suchte vergeblich seinen Blick … Hinter dem geschlossenen Vorhang seiner Lider mit ihren pechschwarzen, langen Wimpern schien er auch zu lächeln. 

Schließlich fühlte ich mich vier Schritte von ihm entfernt irgendwie überflüssig und entfernte mich von ihm mit dem seltsamen Gefühl, ein Mysterium gestreift zu haben. 

Die Sonne ging fast ohne Vorankündigung unter, wie so oft in diesen Breiten, und in meinem kleinen, mehr als bescheidenen Zimmer überließ ich meinen müden Körper der Nacht. Erschöpft schlief ich ein, den Blick der Seele noch voll von den tausend Eindrücken des Tages. 

Die Nacht von Varanasi 

Doch nach einiger Zeit, ich weiß nicht wann, »wachte« ich plötzlich im Schlaf auf. Ich war damals schon an diesen faszinierenden Zustand gewöhnt, der nichts mit Träumen zu tun hat und in dem unser Bewusstsein extrem klarsichtig wird, während der Körper schläft. 

In einem undefinierbaren Raum stand direkt vor mir der Yogi (oder Sanyassin), der mir einige Stunden zuvor so besonders aufgefallen war. 

Ich wusste sofort: Wenn ich hier vor ihm stand, dann deshalb, weil er mich gerufen hatte. 

Im perfekten Lotussitz saß er völlig regungslos inmitten der Sternennacht und schien noch nicht einmal zu atmen. Er sagte kein einziges Wort, aber was ich dann sah, markierte den Beginn einer wahrhaften Umwälzung meines Geistes, der begierig war, zu verstehen und zu begreifen … 

Plötzlich atmete der Mann langsam und tief ein … und während seine Lunge sich mit Luft füllte, sah ich, wie sämtliche Sterne am Firmament durch alle Poren seines Wesens in ihn hineinströmten. 

Er wurde zum Ebenbild des Kosmos … Seine Körperoberfläche war dunkel wie die Nacht geworden, und doch funkelte sie vor Sonnen, Monden, Sternenbildern und Himmelsstaub, die vor Leben knisterten. 

Die Erfahrung dauerte nur wenige Augenblicke. Kurz darauf war ich hellwach in meinem Körper, mit einem unglaublichen Gefühl der Erfüllung. Alles war so präsent und klar! Noch ganz ergriffen von diesen Bildern wurde mir unmittelbar klar, dass »Man« gerade die Voraussetzungen in mir geschaffen hatte, um das Leben und den Menschen voll und ganz zu verstehen. 

Mir war nicht nur gezeigt worden, dass der Mensch einen ganzen Kosmos verkörpert, sondern auch, dass er durch die Suche nach seiner Befreiung dazu eingeladen ist, diese Wahrheit bis in seine Zellen hinein zu verinnerlichen. Nicht mit Luft füllte der Yogi sein Wesen, sondern mit Energie im reinen Zustand. Offensichtlich hatte er zu einer »Seelenatmung« gefunden, die das Universum absorbierte und in ihm niederließ … bis er sich vollkommen mit dem Körper des Göttlichen identifizierte. 

In seiner Meditation wurde er so zu einem Kosmos, indem es ihm gelang, dessen Präsenz in sich zu verinnerlichen. Durch die Art und Weise, wie er mir sein Vorgehen gezeigt hatte, verstand ich nun auf eine andere als intellektuelle Weise den Ausdruck, nach dem der Mensch nach dem Ebenbild des Göttlichen geschaffen ist. 

Ich sah, berührte mit dem Herzen diese Wahrheit, nach der die Gesamtheit des materiellen Universums, in dem wir leben und uns weiterentwickeln, nichts anderes ist als der Ausdruck des physischen Körpers des Göttlichen. 

Im vollkommenen Erstaunen erkannte ich, wie wir uns an Seiner Oberfläche und in Seinem Raum bewegen, ohne Es aber wahrnehmen zu können, weil wir so unendlich klein sind und es uns an der nötigen Höhe fehlt. 

Was konnten wir also tun, um zu wachsen und unsere Flügel auszubreiten? Was war das wahre Geheimnis des Mannes, der mir diese wunderbare Lektion erteilt hatte? 

Aber damit endeten auch schon meine fragenden Gedanken, denn kurz darauf bekam ich den nächsten »Schlafanfall« und wachte wieder mit derselben Klarsicht im Traum auf. 

Wieder saß der Yogi in derselben Pose vor mir, den ganzen Körper voller Gestirne, Sternenbilder und Sternenstaub … Ich erinnere mich, dass mich kein einziger Gedanke streifte. Ich wartete … 

Ich wartete, bis der Blick meiner Seele von einem bestimmten Bereich seines Körpers angezogen wurde; ich glaube, es war der Bereich seiner Leber. Dann tauchte jenseits aller Willenskraft »etwas« von mir in ihn hinein, als würde mein inneres Auge von einer höheren Absicht ferngesteuert. Es ist schwierig zu beschreiben, was ich erlebte … Ich hatte den Eindruck, endlos zu fallen und unermesslich klein zu sein … 

Tausend Universen in uns 

Entdeckte ich gerade das Universum einer Leber? Vor einem purpurfarbenen Firmament schwebte ich in etwas, das ein echtes Sonnensystem zu sein schien. Es gab zahlreiche Planeten darin und ein Feuer, das sie zu umkreisen schienen. Dieses Feuer war eine Keimzelle, eine pulsierende Kraft, die, da war ich mir sicher, wie ein Gedächtnis die unzähligen Planeten speiste, die auf sie ausgerichtet waren. 

Wo war ich? War ich im Herzen des Lebens? Dort, wo es in größter Intimität entstand? 

Es war so intensiv, dass mir kurz darauf übel wurde und ich mich praktisch ohne wahrnehmbaren Übergang jäh in meinem Körper auf dem Bett ausgestreckt wiederfand. 

Ich war nicht zur kleinsten Bewegung fähig und fühlte mich weiter in einem extremen Wachzustand, mehr als je davon überzeugt, dass »Man« erneut unzählige Informationen in mir ausgeschüttet hatte. 

Mir wurde sonnenklar, dass der Mensch definitiv und grundsätzlich in allen Punkten dem Göttlichen ähnlich war. 

Er hatte die Verantwortung für seinen physischen Körper, genauso wie das Göttliche sie für Seinen konkreten Ausdruck, unser Universum, hatte. Dem Menschen kam also die Rolle zu, das Leben seiner Organe weiter zu verbreiten und zu erhalten, indem er ihnen vor allem Intelligenz und Liebe zukommen ließ. Mehr als eine Rolle, war es eine Aufgabe, eine Notwendigkeit, durch die er letztendlich Glückseligkeit erlangen konnte. 

Das unendlich Große spiegelte sich im unendlich Kleinen wider. Das war also nicht einfach nur ein schönes, poetisches Bild, sondern eine grundlegende Wirklichkeit, und es musste uns gelingen, uns von ihr durchdringen zu lassen, um in Weisheit und Licht zu wachsen. 

Was konnte es Wichtigeres geben als uns selbst zu vervollkommnen, indem wir der absurden Wiederholung der Leidensmuster ein Ende setzten, die in uns eingraviert waren … weil wir unsere eigene Natur nicht kannten? 

So wie das Göttliche Sein eigenes Wachstum und immer größere Vollständigkeit suchte durch die Aussaat Seines Prinzips in allem, was die Schöpfung ausmachte, waren wir im Laufe des Lebens dazu aufgerufen, unser Wesen zu einen und zu vergöttlichen … ohne dabei aber unseren fleischlichen Körper zu vergessen. 

Daraus ergab sich, dass unsere Organe Planetensysteme waren oder enthielten, unsere Körperfunktionen ein Spiegelbild der Sternenbilder waren und unsere gesamte persönliche Galaxie zwangsläufig von einer herrlichen Zentralsonne regiert oder orchestriert werden musste, um die herum sich alles ganz selbstverständlich anordnete … eine Art »Sirius«, der jedem von uns zu eigen war. 

All das nahm seinen Platz in meinem Bewusstsein ein, sicherlich noch etwas ungeordnet, aber auch so kristallklar und offenkundig, dass ich den Rest der Nacht nicht mehr einschlafen konnte. 

Mir wurde schlagartig klar: Jeder von uns trug das Prinzip der Göttlichkeit in sich und damit die Verantwortung für die Entwicklung der Mikro-Schöpfung, die sein gesamtes Wesen darstellte, bis ins Herz seiner Zellen, Atome und Moleküle hinein. 

Ebenso verkörperte jeder von uns eine Zelle, ja sogar ein Atom oder ein Molekül der Wirklichkeit des Göttlichen. Jeder von uns war ein Teil Dessen, das Es ist, eine Parzelle, die dazu aufgerufen war zu wachsen – also sich ihrer selbst bewusster zu werden –, um wiederum Es, Ihn, wachsen zu lassen. 

Alles war nicht nur miteinander verbunden und voneinander abhängig, sondern vor allem war alles nur Eines! Jeder von uns war ein Glied einer fantastischen Kette … 

Die Arbeit an unserer Seele lud uns also dazu ein, früher oder später an unserem Körper, unseren Zellen und unseren Atomen zu arbeiten. Außerdem brachte uns all das gleichzeitig dazu, an der Ausdehnung des Göttlichen mitzuwirken, uns Ihm zu nähern, bis wir uns mit Ihm identifizierten. 

Es war eine Art lichtvolle »Gebetskette« aus süßen Notwendigkeiten, bei der es nur befriedend und befreiend sein konnte, sie der Reihe nach abzuarbeiten. Heute, nachdem einige Zeit vergangen ist, könnte ich den Prinzipien des Hologramms entsprechend noch hinzufügen, dass wir als Glieder dieser Kette ihre Gesamtheit in uns tragen. 

Seit dieser magischen Nacht in Varanasi habe ich mich oft innerlich an meine »Sternenbilder« und die sichtbaren oder unsichtbaren Himmelswege gewandt, durch die sie kommunizieren. In schwierigen Momenten hat mir das immer sehr geholfen, vor allem, sobald nicht mehr mein Verstand die Wahrheit erfasste, sondern die Zentralsonne meiner eigenen Galaxie: mein sichtbares und unsichtbares Herz. 

Damals habe ich gefunden, was ich seitdem als »Gebrauchsanleitung« des Lebens in uns betrachte: den Pfad des Advaïta.2 

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1 Ghat: Treppenzugang zum Ganges.

2 Advaïta: Sanskrit-Begriff, der den Zustand des Einsseins mit Allem, die Überwindung der Dualität, beschreibt. 

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© Daniel Meurois, Auszug aus (S. 21-30), Advaita – Einssein mit Allem. Silberschnur Verlag, ISBN: ‎978-3969330784, 232 Seiten.