“Francesco …” 

“Sei nur ganz Ohr, Chiarina … Willst du mir weiter zuhören?” 

Ich kniete zu seinen Füßen nieder und nahm sie in die Hände, um sie zu wärmen. Auch sie waren mit armseligen Binden umwickelt, die ich eigentlich hätte wechseln müssen … 

“Kannst du dich daran erinnern, welch’ ein Skandal das war? Ich kam gerade noch dazu, einen Karren voll mit schönem Holz vor der Kapelle in Empfang zu nehmen und ins Gras abzuladen. Kaum war ich wieder zu Hause – ohne ein Wort zu sagen und recht stolz auf mich – als das Donnerwetter auch schon losbrach. Mein Vater beschimpfte mich, meine Mutter aber schämte sich zutiefst … Wieso die Nachricht mir vorauseilte, habe ich nie erfahren. Jedenfalls wussten sie alles. Auch diesmal erwiderte ich nichts auf die Vorwürfe. Ich hatte keine ‘menschlichen’ Argumente, die sie verstanden hätten. Außerdem … ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll … war eine Kraft in mir, die es nicht einmal versuchte – der es vollkommen egal war. Es war seltsam … Ich war in einem seltsamen Zustand … fast eine Art von Trunkenheit. 

Ich war berauscht von der Tatsache, zum ersten Mal im Leben einen Schritt gewagt zu haben, der mich meinem Herzen wirklich näherbrachte. Nun konnte ich dem Herren Jesus endlich ins Angesicht blicken und meinem Leben einen Sinn geben! 

Ohne irgendetwas dazu zu sagen, ging ich hinaus und verbrachte den restlichen Tag auf den Hügeln. 

Ich sah mir die Olivenbäume an – die sich keine Fragen stellten – und die Bienen, die einfach nur ihre Arbeit machten. Mein Kopf war leer … Aber ich hatte mich noch nie, noch gar nie, so voller Liebe gefühlt.
Ich hatte mich getraut, Klara, verstehst du? Ich hatte es gewagt – hatte einen ersten Schritt gewagt. Das können die wenigsten von uns in dieser Welt. Etwas Verrücktes zu machen, schon um nicht weiterzuschlafen … Leben hereinbringen, anstatt immer dieselben, vorgefertigten Gesten zu wiederholen, die einem Sicherheit geben – und dieselben, ‘vernünftigen Worte’. Das ist, wie jeden Tag die Finger ins Weihwasser zu tauchen – was uns angeblich ins Himmlische Paradies bringen soll … 

Ich war wirklich in einem seltsamen Zustand, kleine Schwester … Ich sagte nichts, doch ich lächelte, das kann ich dir versichern. Mein Aufbegehren aber auch mein innerer Frieden brachten mich zum Lächeln. Noch am selben Abend hatte ich mich in eine sanfte, friedvolle Rebellion verwandelt. 

Am nächsten Morgen wusste ganz Assisi von meinem Vergehen, das ist dir ja bekannt. Meister Pietro hatte einen Dieb als Sohn. 

Da mein Vater den Bischof gut kannte, konnte er ihn überzeugen, mich zu empfangen. Er sollte mich zurechtweisen und einen Weg finden lassen, alles zurückzuzahlen. 

Ich hatte die Stoffe und Tücher offensichtlich zu einem viel zu geringen Preis verkauft. Sie mussten recht wertvoll sein, denn ich hatte kaum noch welche übrig. Geld als solches hat mich noch nie interessiert. 

Leider – oder zum Glück – musste ich den Bischof nicht zu Hause aufsuchen, um ihm alles zu erklären. Die Begegnung fand am Ende des Platzes in der Nähe des Bäckerladens statt. Das weißt du ja bestimmt noch. 

Mein Vater begleitete mich, schäumend vor Wut. Er sagte keinen Ton, als sei ich ein kleiner Junge, der bestraft werden muss. Meine Mutter schleppte er fast gewaltsam mit. Sie weinte. 

Als ich mitten auf der Straße ansetzte, dem Herrn Bischof alles zu erklären, bildete sich sofort eine Menschenmenge um uns. Die ganze Stadt schien sich versammelt zu haben, um mich zu richten. Wie gerne hätte ich alles erzählt – meine Visionen, die Anwesenheit unseres Herrn an meiner Seite, seine Stimme und seine Bitte! Aber sie hörten mir nicht zu. Stattdessen hatte jeder einen Kommentar dazu abzugeben. 

Und dann, Klara … geriet die Situation völlig aus den Fugen. Heute kommt es mir vor wie ein großes Fenster, das in meiner Seele aufging. Das Blau des Himmels dahinter war so rein und klar! Alle Worte, die mir einfielen – und die ich anfangs geradezu brüllen musste – kamen nicht von mir … zumindest nicht von Francesco Bernardone, der in diesem Moment wohl für immer starb. 

Du warst nicht dabei, als ich endlich sprechen konnte. Doch alles, was darüber erzählt wurde, ist wahr. Das schwöre ich Dir. 

Mit gewählten, doch glühenden Worten, sagte ich mich von meinem Vater los … Gewiss nicht aus Bosheit, auch nicht, um seiner Verleugnung meiner Person zuvorzukommen, sondern einfach, weil mit grausam klar wurde, dass er nicht mehr mein Vater war und es auch nie mehr sein würde. 

Das geschah nicht aus Berechnung, wie manche später sagten, kleine Schwester. Es kam aus meinem Herzen – das ganz erfüllt war von der Gnade unseren Herrn Jesus. Es war so klar und selbstverständlich! Mein Vater konnte nicht mehr mein Vater sein, weil der Einzige, für den ich nun da sein wollte, vom Himmel gestiegen war und mich bei der Hand genommen hatte … Als ich begann, meine Tunika, meine Schuhe und schließlich alle meine Kleider auszuziehen, riefen die Leute, ich sei verrückt. Welch ein Skandal! Doch glaub’ mir, Chiarina, nie war ich bei klarerem Verstand, niemals so sehr ‘ich selbst’ wie in jenem Moment – auch wenn ich nicht Herr über meine Worte war. 

Ich wollte nackt sein, wie unser Retter am Kreuz, um mich der Welt völlig hinzugeben. So wie ich geboren wurde und sterben würde, ohne Verkleidung und frei von Angst wollte ich sein. Denn nichts auf dieser Welt interessierte mich mehr. Nichts! Ich sah sie allenfalls noch als Treppe, auf deren Stufen wir lernen können zu helfen, zu lieben und zu unserem Herrn emporzusteigen. Du verstehst das …” 

“Viele haben es verstanden, Francesco …”
“Glaubst du?”
 “Es sind dir doch seither unzählige Menschen gefolgt … 

Sie haben deine Worte aufgegriffen und tragen dasselbe Gewand wie du – über Grenzen hinweg, sogar bei den Franken.” 

“Genau darum geht es mir, Klara … Sie führen meine Reden und haben sich meinen Weg der Armut zu eigen gemacht … Aber sie sollen doch nicht auf mich hören und mir nicht folgen. Es geht nicht um mich. Sie machen mich nach … ohne zu merken, dass sie nicht meine Worte wiederholen sollen. Ich kann niemals mehr sein, als eine kleine Erinnerung an das, was die Welt vergessen hat. 

Mir ist aufgefallen, dass meine Worte bereits verfälscht werden oder auf eine Weise aufgeschrieben, die mir nicht entspricht. Im Übrigen sollen nicht sie die Menschen inspirieren! Ich habe sie mir immer als Wind gewünscht, der nur dazu dient, den Staub der Zeit ein wenig aufzuwirbeln. Wir müssen allein die Worte unseres Herren leben und sonst nichts!” 

(…)

“Darum hat Er wahrscheinlich nichts aufgeschrieben … damit wir uns selbst auf die Suche machen können und wenn alle Argumente der Kleriker sich erschöpft haben, endlich unsere Erinnerung wiederfinden. 

Oh, wenn du gesehen hättest, was für Augen der hochwürdige Bischof, meine Eltern und all die Leute machten, die sich am Rande des Platzes versammelt hatten! Als sie mich nackt sahen, schrie einer sogar, ich sei des Teufels! 

Doch ich hatte nicht die leiseste böse Absicht, kleine Schwester. 

Der Herr verzeihe mir, aber einen Moment lang – einen winzigen Augenblick, fühlte ich mich wie Er, irgendwo in einer Straße Jerusalems. Ich ergab mich in Gott, wie auch Er sich Gott hingegeben hat. Es war mir völlig gleichgültig, was man von mir denken oder mit mir machen würde. Nie wieder würde ich die Kleidung eines halbherzigen Menschseins tragen! Ich würde ganz und gar Mensch sein – oder gar nicht mehr sein! Das ist stolz, nicht wahr? 

Als meine Mutter sich entschloss, mir ihren blauen Mantel umzulegen, sah ich, dass sich im Blick des Bischofs etwas verändert hatte. Er war nicht mehr hart, nicht im Geringsten. Fast sah es aus, als würde er mich verstohlen anlächeln. Es war ein kleiner, dicklicher Mann, weißt du noch? 

Ich höre ihn noch leise zu mir sagen: “Komm, Francesco, lass uns nach Hause gehen. Wir müssen miteinander reden.” Dann nahm er mich beim Arm, ließ mich meine Kleider vom Boden aufheben und nahm mich mit zu sich. Die anderen blieben verblüfft zurück. 

Ich glaube, in dem Moment kamst du, Klara. Allerdings sah ich dich nicht … Ich sah gar nichts mehr, spürte nicht einmal mehr Erde oder Stein unter meinen Füßen. (…)”

 “Ich weiß nicht einmal, wo du vom Bischof aus hingegangen bist, Francesco. Es hieß, du hättest bei ihm übernachtet.” 

“Ins Tal … Ich gab einem Wachposten die paar Geldstücke, welche ich noch bei mir trug, damit er mir eine Ausfallspforte öffnet. So gelangte ich unauffällig auf die andere Seite der Mauern. Dann ging ich im Mondschein den Weg hinunter zur Ruine meiner Kapelle. Dort schlief ich erschöpft neben dem Holzstapel ein, der auf mich wartete. Nur das Kläffen eines Fuchses ließ mich schon im ersten Morgengrauen die Augen aufschlagen. Ich setzte mich auf, ganz von Tau bedeckt und sah das Tier mit einem Hasen im Maul vorbeistreichen. Wenn du wüsstest, wie dieser erste Eindruck des Tages mich aufwühlte! Ich hatte den Herrn Jesus um völligen Frieden gebeten – um den Frieden mit all der Sanftmut, die Ihm eigen war. Nun aber antwortete mir die Natur selbst mit Blut und einem Todesfall … denn auch der Tod eines Tieres ist Leid und Tod, Klara. War es richtig, so viel zu erhoffen und zu verlangen, wenn Gott selbst bis in die ausgleichenden Kräfte seiner Schöpfung hinein Schmerz zuließ? 

Darauf hatte ich keine Antwort. War ich vielleicht doch nur ein eitler Mensch, der sich auf Biegen und Brechen mit Christus identifizieren wollte? Jemand, der sogar so weit ging, zu stehlen und sich auf dem Marktplatz unanständig aufzuführen, nur um sich über die Gesetze zu stellen – und über alles zu erheben? 

Lange Zeit war ich völlig niedergeschlagen. Diese Gedanken vernebelten meinen Kopf. Hatte es überhaupt einen Sinn, mich mit Holz und Steinen an die Arbeit zu machen? Es gebrach mir an körperlicher Kraft. Auch mein Magen begann heftig zu knurren. Das hat nie jemand erfahren. Alle dachten immer, meine Fackel würde Tag ein Tag aus brennen … ohne zu flackern – ohne jemals ihre Flamme infrage zu stellen. Doch der Herr und die ganze Natur sind meine Zeugen, dass ich noch den allerkleinsten Schritt, den ich machte, wieder und wieder hinterfragte. 

Als ich endlich aufstand und um meine Kapelle herumging, hatte ich sogar Angst, eine Ameise zu zertreten. Hatte auch Christus auf seinen Wegen welche zertreten? Oh Chiarina, was musste man denn tun, um nur noch Liebe zu sein?

Auszug aus dem Buch „Das Geheimnis des Franz von Assisi”, Kapitel 3 „EIN SEELENFENSTER“, beim Silberschnur Verlag. © Daniel Meurois,